Vielleicht ist der Mensch im Kindesalter nicht darüber bewusst, was politischer Aktivismus und Kampf für Gerechtigkeit bedeutet. Ich glaube jedoch, dass Erfahrungen in der Kindheit besonders die politische Prägung und den Werdegang im Erwachsenenalter bestimmen.
Meine Kindheit habe ich in der Türkei, in einem kurdischen Dorf Gölyazi (Kurdisch: Xelikan) in der Provinz Konya verbracht. Vom ersten Schultag an musste ich mich in der Schule zurechtfinden, ohne meine Muttersprache verwenden zu dürfen, und mich in einer Sprache auszudrücken, die ich kaum beherrscht hatte. Denn, in der Schule war die Sprache Kurdisch verboten. Es ist mir aber heute immer noch ein Rätsel, wie ich mit dem Erlernen der türkischen Sprache, des Beherrschens von Lesen und Schreiben schon im Privatschulalter ein Bewusstsein dafür entwickelt hatte, was es bedeutet, Kurdin zu sein – eine politische Identität, die sich dem türkischen Staat widersetzt, der das kurdische Volk unterdrückt, seine Rechte verwehrt und seine Reichtümer aneignet.
Meine Eltern waren nicht politisch aktiv. Aber die erzwungene Migration in die Schweiz im Jahre 1996, als ich 13 Jahre alt, war ein Bruch von einem Leben, das ich mich in Gölyazi vorgestellt hatte: eine unschuldige Freude am Leben im Rahmen von Möglichkeiten, umgeben von besten Freund*innen und Büchern. Es waren primär Romane, die vom politischen Widerstand schrieben, einige von kurdischen und türkischen Autor*innen verfasst, einige ins Türkische übersetzte Bücher aus Europa. Ich musste all diese Bücher zurücklassen, denn in unserem Kofferraum hatten meine Eltern andere wichtige Sachen eingepackt. Auch die Freund*innen und die Freude musste ich zurücklassen.
Ich bin in Kleinbasel in Vogelsanggrube weiter zur Schule gegangen. Dort habe ich viele andere Flüchtlingskinder aus Kosovo, Bosnien, Irak, Vietnam kennengelernt. Wir alle hatten die Chance bekommen, dass uns ein ganzes Schuljahr lang intensiv Deutsch gelehrt wurde. Wir durften für gewisse Fächer wie Musik und Sport die reguläre Schule besuchen. Nach diesem ersten Schuljahr durfte ich in die reguläre Schule und ein Jahr danach aufs Gymnasium Bäumlihof. Ich hatte neue Freund*innen und hatte neue Bücher gesammelt. Und meine Freude am Leben war eigentlich nie verschwunden …
Ich habe einen Augenblick lange gebraucht, um das politische System in der Schweiz zu verstehen. Je mehr ich es verstand, desto mehr war ich davon fasziniert, durfte aber bis zum 24. Lebensjahr nicht mitbestimmen. Mein politischer Aktivismus beschränkte sich auf die Beschäftigung mit kurdischer Widerstandsbewegung, auf Diskussionen mit Kommiliton*innen an der Universität und einigen Verwandten, Teilnahme an Demonstrationen.
Nach dem Studienabschluss war mein erstes politisches Engagement, mich als Praktikantin in der SP-Sektion des Kantons Zürich zu bewerben und Wahlkampagnen zu organisieren. Im Rahmen dieses Praktikums habe ich auch meine erste politische Schrift verfasst, «40 Jahre Frauenstimmrecht. Ein alter Zopf?». Danach folgte die Koordinationsarbeit für die kantonale Volksinitiative «Mehr Demokratie», indem es für politische Mitbestimmungsrechte für Ausländer*innen im Kanton Zürich ging.
Für mich bedeutete diese Tätigkeit, dass ich für etwas mehr Gerechtigkeit kämpfen durfte, eine Freiheit, deren Entzug ich als kurdisches Kind erfahren hatte.
Was meine politische Überzeugung über diese Erfahrung hinausgebracht hatte, war meine Forschungsarbeit zur Frauenstimmrechtsbewegung. Ich habe während fünf Jahren die Gründung und die Aktivitäten von internationalen Frauenorganisationen und Frauenvereine in der Türkei untersucht. Die Themen, die diese Frauen vor mehr als hundert Jahren diskutierten und die Anliegen, für die sie kämpften, sind heute immer noch aktuell: Gleichberechtigung von Frau und Mann in allen Lebensbereichen (Bildung, Politik, Wirtschaft, Betreuung von Kindern …).
Wir haben in vielen Themen Fortschritte gemacht, aber wir haben die Gleichberechtigung bisher nicht erreicht. Dieses Wissen, das ich über die Geschichten dieser Frauenorganisationen gesammelt und niedergeschrieben hatte, war auch begleitet von eigenen Diskriminierungserfahrungen aufgrund meines Hintergrundes und Geschlechtes auf dem Arbeitsmarkt und auch im sozialen Leben. Aber die Geschichten zeigten mir auf, dass es möglich ist, etwas zu verändern und in Gang zu setzen, auch wenn es nur ein kleiner Schritt ist.
Eine Stimme, die in einem Randartikel einer Frauenzeitschrift in Istanbul im Jahre 1913 geliefert war, hatte die Vision aller feministisch aktiven Personen, aber auch meiner, auf eine besonders simple Art zum Ausdruck gebracht. «Wir werden mit unserem Kampf für Gleichstellung in Zukunft so weit kommen, dass die Menschheit nicht mehr zwischen Mann und Frau unterscheiden wird. Wir werden nur noch von einem Geschlecht sprechen, das Geschlecht der Menschheit».
Für die Realisierung dieser Vision gibt es noch viel zu tun.